Gefühlswegweiser: Was Richard Wagners Leitmotive erzählen

Vortrag des Richard-Wagner-Verbandes Leipzig am 15. Januar 2020
Referent: Prof. Dr. Wolfgang Fuhrmann, Leipzig

Es war wohl auch das interessante Thema des Januar-Vortrags, welches für eine ungewöhnlich hohe Besucherresonanz sorgte. Von „Leitmotiven“ im Zusammenhang mit Wagners Oeuvre hat wohl jeder schon etwas vernommen, doch war es für manchen Anwesenden eine Überraschung, dass der Meister selbst diesen Begriff nicht schätzte. Grundsätzlich findet sie aber jeder Interessent bei genauerem Hinhören oder Lesen der Partitur: Jene wiederkehrenden und oftmals einer bestimmten Figur (Riesen, Wurm) oder einem Schauplatz (Walhall, Schmiede) gewidmeten melodischen Gestalten. Der aufmerksame Opernbesucher vermag sich anhand der wiederkehrenden Motive leichter zu orientieren, kann bestimmte Zusammenhänge besser einordnen oder verborgene Anspielungen verstehen bzw. einfach nur bekannte, immer wieder zitierte Harmoniefolgen genießen.

Wolfgang Fuhrmann erläuterte interessante Fakten zur Rezeptionsgeschichte der Leitmotive, vom spöttischen Ablehnen als „Stichwortmotive“ (Carl Dahlhaus) bis zum buchstabengetreuen Interpretieren als Fahrplan für die Opern-Enthusiasten (Lothar Windspergers „Buch der Motive“, 1920). Der Besucher erfuhr überdies, was Richard Wagner selbst dazu formulierte:

„Diese melodischen Momente, an sich dazu geeignet, das Gefühl immer auf gleicher Höhe zu erhalten, werden uns durch das Orchester gewissermaßen zu Gefühlswegweisern durch den ganz vielgewundenen Bau des Drama’s. An ihnen werden wir zu steten Mitwissern des tiefsten Geheimnisses der dichterischen Absicht, zu unmittelbaren Theilnehmern an dessen Verwirklichung“ (Oper und Drama, 1851).

„Melodische Momente“ und „Gefühlswegweiser“…So ganz unpassend erscheint der nachträglich erfundene Begriff „Leitmotiv“ dann doch wieder nicht. Schließlich leiten diese „Wegweiser“ unsere Gefühle durch die oftmals verschlungene Dramatik mythologischer Geschichte. Anhand zahlreicher Musikbeispiele erläuterte Fuhrmann eindrucksvoll, wie die Leitmotive untermalen, was in der Handlung geschieht. Andererseits finden sich genügend Belege für das Gegenteil: Man erspürt quasi beim Hören die wahren Intentionen des Darstellers, die sich durchaus vom Wortlaut unterscheiden können bzw. vernimmt das Unausgesprochene. Besonders im Tristan fänden sich unzählige musikalische Anspielungen, z.B. auf die Gedankenwelt Isoldes oder hinsichtlich brodelnder Gefühle beim Blickkontakt mit Tristan. Hier erweisen sie sich tatsächlich als „Gefühlswegweiser“, die sich nicht plakativ auf konkrete Personen oder Dinge festlegen lassen.

Fuhrmann resümiert: „Die Leitmotive funktionieren manchmal schlicht wie Vokabeln und sind manchmal unbenennbar wie Gefühle. Ihnen zu folgen kann auf neue Pfade des Hörens und des Verständnisses führen, das auf Spuren des Verheimlichten, des Unterdrückten und Unbewussten führt. Sie können ihre eigene Geschichte haben, ja fast so etwas wie ihre eigene Lebenszeit“.
Nicht verheimlichen wollen wir, dass der gebürtige Wiener Wolfgang Fuhrmann seit 2018 an der Universität Leipzig den Lehrstuhl für Musiksoziologie und Musikphilosophie innehat. So darf man auf weitere interessante Vorträge dieser Art hoffen…

Zum Weiterlesen:
Melanie Wald/ Wolfgang Fuhrmann: Ahnung und Erinnerung – Die Dramaturgie der Leitmotive bei Richard Wagner, Kassel 2013

Referent: Prof. Dr. Wolfgang Fuhrmann, Leipzig | Foto: Dr. Birgit Heise