Abschied von Ruth Streller

Eigentlich wollte sie hundert Jahre alt werden. Doch eine lange schwere Krankheit machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Kurz nach ihrem 95. Geburtstag ist unser Ehrenmitglied Ruth Streller am 15. Oktober 2024 in ihrer Wohnung in der Schönefelder Bästleinstraße verstorben. Als ich sie letztmalig besuchte, war sie schon sehr hinfällig, kochte aber mit eiserner Disziplin ihr Mittagessen selbst und verwickelte mich sogleich in ein Gespräch über ihr Lieblingsthema – Musik und Theater. Ihre nimmermüde Begeisterung galt von Jugend auf ihrer Passion. Selbst als der geschwächte Körper den Dienst verweigerte, blieb ihr doch ein wacher Geist, der minutiös all die kostbaren Erinnerungen gespeichert hatte, die sie nur abzurufen brauchte, wie den letzten Opernbesuch, die Premiere „Lady Macbeth von Mzensk“ von Schostakowitsch, die sie unglaublich begeistert hatte, wie sie mir anschaulich schilderte. Auch auf die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft an den damaligen Intendanten und Generalmusikdirektor Prof. Ulf Schirmer am 21. Mai 2022 kam sie zu sprechen, den sie sehr bewunderte und die sie mit dreizehn weiteren Verbandsmitgliedern im Opernhaus erleben durfte. Dabei war ihr besonders wichtig, ihm eine Fotografie von 2015 zu überreichen, auf der er dem langjährigen Vorsitzenden und Wagner-Forscher Prof. Werner Wolf in der ersten Pause des „Siegfried“ zum 90. Geburtstag gratuliert.

Freude über das Geburtstagsgedicht
Foto: Ursula Oehme, 2019

Als Achtzehnjährige erlebte Ruth Streller 1947 im Haus Dreilinden (heute Musikalische Komödie) ihre erste Wagner-Oper, „Tristan und Isolde“. Da das Neue Theater am Augustusplatz bei dem schweren Bombenangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 zerstört wurde, erfolgten bis zur Eröffnung des neuen Opernhauses am nunmehrigen Karl-Marx-Platz (heute wieder Augustusplatz) insgesamt neun Inszenierungen von sieben Werken Richard Wagners in dem ehemaligen Varieté. Nur nebenbei sei erwähnt, dass ihr Interesse auch anderen Komponisten galt und sie alle Opern sah, die auf dem Spielplan standen. Schon immer konnte sie sich über missglückte Inszenierungen empören, aber genauso leidenschaftlich loben, was ihr gelungen erschien.

1948 bewarb sie sich für die Statisterie (Komparserie) und später für den Bewegungschor, und konnte dadurch ihren Traum, selbst auf der Bühne zu stehen, verwirklichen. Am liebsten erinnerte sie sich an ihre Mitwirkung im dritten Aufzug der „Meistersinger von Nürnberg“ im neuen Opernhaus, die der von ihr zutiefst verehrte Joachim Herz 1960 auf die Bühne brachte. Weitere Auftritte hatte sie in Wagner-Opern beispielsweise im zweiten Aufzug von „Rienzi“ und am Ende des zweiten Aufzugs des „Fliegenden Holländers 1962.

Als zum 170. Geburtstag des Dichterkomponisten am 22. Mai 1983 der „Freundeskreis Richard Wagner“ im Stadtverband Leipzig des Kulturbundes der DDR gegründet wurde (Vorläufer des Richard-Wagner-Verbandes Leipzig), gehörte Ruth Streller zu den Gründungsmitgliedern. Von Anfang an organisierte sie die zahlreichen Opernreisen und verschaffte den Verbandsmitgliedern so manches außergewöhnliches Opernerlebnis.
Ihre gründlichen Kenntnisse der Opernliteratur ermöglichten den Mitgliedern auch die Bekanntschaft mit unbekannten oder selten gespielten Werken, wobei ihr ihre jahrelangen Erfahrungen im Umgang mit dem Besucherservice der einzelnen Häuser von Nutzen waren. Kamen entsprechend viele Interessenten zusammen, organisierte sie zudem einen Bus. Für ihren unermüdlichen Einsatz werden wir ihr immer dankbar sein.

Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Helmut Loos erwies Ruth Streller zu ihrem Begräbnis am 8. November 2024 die letzte Ehre. Ihr Grab auf dem Schönefelder Friedhof schmückt auch ein Blumengruß unseres Verbandes.

Ursula Oehme