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Stammtisch für Joachim Herz – Weggefährten erinnern sich
Am 18. Oktober 2010 verstarb der Regisseur und Operndirektor Joachim Herz, der durch seine außergewöhnliche künstlerische Arbeit den Opernspielplan in Leipzig über viele Jahre maßgeblich prägte und darüber hinaus auch international ein gefragter Wegbereiter des Musiktheaters war.
Joachim Herz (geb. 1924) war ab 1957 in Leipzig als Oberspielleiter der Oper tätig, von 1959 bis 1976 als Operndirektor. 1960 wurde mit seiner legendären „Meistersinger“-Inszenierung das neuerbaute Opernhaus am damaligen Karl-Marx-Platz eröffnet und damit ein neues Kapitel aufgeschlagen, das als die „Ära Herz“ in die Leipziger Operngeschichte einging. In dieser Zeit entstanden seine interessanten Inszenierungen, darunter slawische Opern wie Prokofjews „Krieg und Frieden“ oder Mussorgkis „Boris Godunow“, spätromantische deutsche Opern wie Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“, Wagners „Der fliegende Holländer“ (auch verfilmt) und „Lohengrin“ sowie alle bekannten Opern von Mozart, Meyerbeers „Die Hugenotten“ und Händels „Xerxes“. Mit seiner maßstabsetzenden Inszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ (1973 – 76) krönte Joachim Herz sein Wirken in Leipzig.
Anlässlich seines 10. Todestages fand sich auf Einladung des Leipziger Wagner-Verbandes ein Kreis von Weggefährten, ehemaligen Mitarbeitern, namhaften Opernsolisten und begeistertem Publikum in Auerbachs Keller zusammen, um durch Erinnerungen und Anekdoten des bedeutenden Musiktheatermannes zu gedenken.
Der Musikwissenschaftler und Vorsitzende des Leipziger Wagner Verbands Prof. Dr. Helmut Loos begab sich in ein aufschlussreiches Gespräch mit den Gästen, allen voran Kammersängerin Sigrid Kehl, Kammersänger Helmut Klotz, Opernregisseur Steffen Piontek und Dr. Kristel Pappel, der zweiten Ehefrau von Joachim Herz.
Als KS Sigrid Kehl kurz vor Veranstaltungsbeginn den gut besetzten Raum betrat, brandete spontaner Applaus auf.
Mit Sigrid Kehl, die seit 1957 dem Leipziger Opernensemble angehörte, eröffnete Prof. Loos das Gespräch und bat die Sängerin um eine charakteristische Erinnerung an die Arbeit mit Joachim Herz.
Sie erzählt, dass Herz, der am realistischen Musiktheater Walter Felsensteins geschult war, diese Prinzipien in der Praxis anwandte und die Sänger als Darsteller einsetzte. Für die meisten Sängerinnen und Sänger war diese Arbeitsweise allerdings noch ungewohnt. „Das ging nur mit vollem Einsatz auf beiden Seiten. Er forderte viel und war da ganz akribisch. Deshalb haben wir auch manches Gefecht miteinander ausgetragen. Dennoch war die Arbeit mit Herz eine große Bereicherung für mich als Solistin.“
Der Tenor Helmut Klotz lernte Joachim Herz schon an den Landesbühnen Sachsen kennen. 1961 wurde er Mitglied des Leipziger Opernensembles und damit auch Protagonist in vielen Herz-Inszenierungen. Als seine größte Herausforderung bezeichnet er den Raoul in Meyerbeers „Hugenotten“ (1974). Über Joachim Herz sagt der Sänger: „Er war einfach ein Wahnsinnskerl! Am Anfang meiner Arbeit mit ihm brachte mich etwas sehr zum Nachdenken: Ich war immer der Meinung, dass ein Regisseur ungefähr weiß, wie seine Inszenierung werden soll, aber die eigentliche Regie dann spontan mit den Sängern auf der Probe festlegt. Dann hatte ich aber zufällig Gelegenheit, einen Blick in sein Regiebuch zu werfen, in den Klavierauszug, den er zur Arbeit benutzte, und musste überrascht feststellen, dass er darin die gesamte Regie schon detailliert eingezeichnet hatte. Jeder Schritt, jede Geste, sogar jeder Gesichtsausdruck und das Timing waren im Vorfeld festgelegt. Wenn ein Vorschlag von einem Sänger ihn aber wirklich überzeugen konnte, hat er seine Regievorgaben auch mal geändert. Trotz hoher Forderungen wies Herz auch immer Fairness gegenüber den Kollegen auf. Seine genaue Vorbereitung auf die Regie betrachtete er als Respekt gegenüber den Sängern.“
Sigrid Kehl sang die Fricka in Wagners „Rheingold“ und alle Brünnhilden des „Rings“. Sie erinnert sich an eine Probe in der Anfangsphase von “Rheingold“, als Edgar Wählte, der den Froh sang und gern mal ein Späßchen machte, die anderen Solisten von der Szene ablenkte. „Mit so etwas konnte Joachim Herz nur schwer umgehen. Er forderte immer 100% Aufmerksamkeit und gute Vorbereitung auf die Probe. Herz konnte sehr streng sein. Die Kritik nach den Proben nahm mitunter zwei bis drei Stunden in Anspruch. Zusätzlich diktierte er der Sekretärin Kritikbriefe an die Sänger, die sie bis zur nächsten Probe zu beherzigen hatten. Als Herz 1976 an die Komische Oper Berlin ging, haben ihm die Sänger sehr nachgetrauert, … aber in mancher Hinsicht waren wir auch froh.“
Prof. Loos fragt den Regisseur Steffen Piontek nach seinen Erfahrungen mit Joachim Herz. Piontek war ab 1985 für einige Jahre dessen Assistent an der Sächsischen Staatsoper in Dresden und betreute auch Herz‘ Eröffnungsinszenierungen der Semperoper.
„Meine erste Erinnerung kommt aus dem Zuschauerraum als ich in jungen Jahren zahlreiche Opernaufführungen in Leipzig gesehen habe. Dabei wunderte ich mich, dass es Aufführungen gab, die mich nicht so interessierten und andere, die mich sehr ansprachen – und ich erkannte, dass das an den unterschiedlichen Regisseuren lag. Die mich besonders interessierten, waren von Joachim Herz. In der späteren Zusammenarbeit mit ihm fiel mir auf, dass allein schon sein Leistungsvermögen, seine Energie bewundernswert waren. In Vorbereitung der Eröffnung der Semperoper inszenierte er fast gleichzeitig den ‚Freischütz‘ und den ‚Rosenkavalier‘. Das war schon kräftezehrend. Später inszenierte er auch ‚Salome‘ an der Semperoper mit Sigrid Kehl als Herodias und Günther Kurth als Herodes. Was die beiden Sänger, die mit Herz‘ Arbeit bestens vertraut waren, dort gezeigt haben, hat die Sänger in Dresden regelrecht mitgerissen.”
Herz sah seine Aufgabe darin, Felsensteins Musiktheater, wie dieser es unter Luxusbedingungen, d.h. sehr langen Probenzeiten, an der Komischen Oper Berlin praktizieren konnte, auf das reichhaltige Repertoiretheater in Leipzig zu übertragen. So bestand er auf szenischen Proben, wenn ein Stück eine Weile gelegen hatte. Seine Inszenierung sollte auch in den laufenden Repertoirevorstellungen genauso zu erleben sein, wie er sie erarbeitet hatte, auch wenn neue Sänger einstudiert wurden.
Herz war ein besonderer Typus, ein Regisseur, wie es ihn vor und nach ihm nicht gegeben hatte und dessen Arbeitsweise auch nicht wiederholbar ist. Man kann sich aber viele wertvolle Anregungen aus seiner Arbeit holen.“
Prof. Loos stellt Dr. Kristel Pappel vor, die zweite Ehefrau von Joachim Herz, die in Tallinn als Musikwissenschaftlerin arbeitet, seinen geistigen Nachlass verwaltet und gemeinsam mit Prof. Michael Heinemann drei Bände mit Schriften von Joachim Herz „Das Musiktheater des Joachim Herz“ herausgegeben hat.
Meistens wird Ihr die Frage gestellt, wie sie Joachim Herz kennengelernt hat: „Das war als Herz für eine Inszenierung in Tallinn weilte und ich den Auftrag erhalten hatte, ein Interview mit dem international bekannten Regisseur zu machen. Als ich ihn traf, war Herz anfangs nicht so guter Laune. Als er aber bemerkte, dass ich sehr gut auf das Gespräch vorbereitet war, rang ihm das Respekt ab und er gab mir dann gleich zweimal die Hand. Das war unsere erste Begegnung.“
Herz‘ Arbeit würde sie aus ihrer Sicht so charakterisieren, dass äußerste Genauigkeit für ihn ganz wichtig war – und das nicht nur bei der Regiearbeit, sondern ebenso bei der Disposition aller Proben für eine Inszenierung. „Er plante nicht nur in Tagen, sondern Monate und Jahre im Voraus. Die gesamte Disposition einer Inszenierung hat er auf Millimeterpapier aufgezeichnet. Auch als er nicht mehr fest an einem Haus engagiert, sondern freiberuflich tätig war, hat er den Tag ebenfalls minutiös durchgeplant. Anders ist wohl ein so großes Arbeitspensum nicht zu schaffen. Zwischen den Proben arbeitete er an Vorbereitungen zu künftigen Inszenierungen, Vorträgen usw., diktierte Post und gab E-Mails weiter.“
Gefragt nach ihren Erinnerungen an die Arbeit von Joachim Herz beschrieb Marita Müller, die viele Jahre an der Oper Leipzig als Dramaturgin tätig war und vorher im Praktikum und als Regiehospitantin bei den „Hugenotten“ und „Walküre“ Herz‘ Arbeit kennengelernt hatte, dass seine inhaltlich-künstlerische Vorarbeit für Inszenierungen lange vor der eigentlichen Regiearbeit begann, das genaue Partiturstudium und gründliche philologische und historische Studien einschloss.
Bei der Vorbereitung von Wagners „Ring des Nibelungen“ hatte Herz einen Arbeitskreis für die konzeptionelle Vorarbeit zusammengestellt – bestehend aus dem Chefdramaturgen, weiteren Dramaturgen und den Regieassistenten/Abendspielleitern. Jeder Beteiligte erhielt Recherche- und Forschungsaufträge, deren Ergebnisse schriftlich eingereicht und in gemeinsamen Beratungen besprochen wurden. Erst wenn grundlegende Fragen geklärt waren und eine bestimmte Inszenierungsabsicht möglichst unanfechtbar begründet war, konnte der Blick auf die konkrete künstlerische Umsetzung gerichtet werden.
Auf die Frage von Prof. Loos, wie denn Herz‘ Verhältnis zur DDR, zur Staatsführung war, wird deutlich, wie Herz stets mit großer Offenheit und Ehrlichkeit an seine Vorgesetzten herangetreten ist und seine künstlerischen Absichten in Spielplanung und Inszenierungen versucht hat zu realisieren. Davon zeugen diverse Briefe, die er z.B. an den damaligen Generalintendanten der Leipziger Theater, Prof. Karl Kayser, geschrieben hat.
Steffen Piontek meint dazu: „Herz war nicht in der Partei, er war kein Propagandist eines Systems. Er musste sich die Bedingungen selbst schaffen, die er als Künstler brauchte. Das tat er mit klaren Worten, ohne anbiedernd zu sein. Er erhielt Auszeichnungen für seine Arbeit, nicht weil er dem Staat nahestand, sondern weil er große Verdienste um das musikalische Theater hatte. Er hat sich durchgesetzt mit Spielplanvorhaben wie ‚Frau ohne Schatten‘ und ‚Der Ring des Nibelungen‘.“
Lothar Wittke, langjähriger Dramaturg an der Leipziger Oper, erinnert sich daran, dass Karl Kayser den Operndirektor Herz und dessen Mitarbeiter oft scherzhaft: „Ihr bürgerlichen Intellektuellen!“ nannte. Als Generalintendant und kraft seiner politischen Funktionen hat er stets über die Opernleitung und Operndramaturgie schützend beide Hände gehalten. „Wir haben an den Leipziger Theatern wie auf einer Insel gelebt und wurden bei Parteibezirksleitungen mit Respekt behandelt. Die Funktionäre hatten Achtung vor der Kunst und den Kunstschaffenden.“
Die Dramaturgin Dr. Hella Bartnig war lange an der Dresdner Staatsoper und zuletzt an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf tätig. Sie erzählt, dass sie Joachim Herz kennt seit sie zwölfjährig als Kinderdarstellerin in Brittens „Albert Hering“ im Kleinen Haus Dreilinden in Leipzig mitgewirkt hat. Trotz aller hohen und strengen Anforderungen an die Solisten, war er zu den Kindern immer ganz sanftmütig.
Später als Dramaturgin und Chefdramaturgin an der Semperoper hat sie zweimal mit ihm zusammengearbeitet. Bei „Così fan tutte“ bekam sie z.B. den Auftrag herauszufinden wie hoch der Wert von 100 Zechinen in DDR-Mark ist. Gerade in Detailfragen wollte er es oft ganz genau wissen. Sie erinnert sich auch daran, dass es einen Druckfehler im Programmheft zum „Rosenkavalier“ gab, eine kleine Wortverdrehung innerhalb eines Satzes. Da verlangte Joachim Herz, die Programmhefte einzustampfen und neu zu drucken, „Die Kosten zahlt der Dramaturg!“
Zu dieser Anekdote gesellt sich eine weitere, wohl eine der letzten in Herz‘ Leben, die Prof. Michael Heinemann erzählt und die für Herz‘ altersweisen Humor spricht: „Joachim Herz besuchte noch im Oktober 2010 eine Neuinszenierung von Richard Strauss‘ ‚Daphne‘ an der Semperoper Dresden. Danach gefragt, wie er die Inszenierung fand, sagte er: ‚Die Uraufführung war besser.‘“
Wie aus einem Puzzle wurde an diesem Nachmittag das Bild eines von der Opernarbeit besessenen, energischen Künstlers lebendig, dem die Leipziger Oper viel zu verdanken hat, der sie in den 1960er und 1970er Jahren durch interessante Spielplanung, kluge Ensemblearbeit und ästhetische Formung zu einem modernen, leistungsstarken Musiktheater entwickelt hat.
Marita Müller