R. Wagner als Sachse

Noch heute ist es vielen Wagner-Freunden etwas rätselhaft, wie der junge Richard mittels sehr bescheidener Unterrichtseinheiten zu seinem grandiosen Stil kommen konnte. Nicht ganz zu Unrecht bezeichnete ihn Thomas Mann als „Dilettant“ im positiven Sinne: Wagner blieb – abgesehen von der einjährigen Unterweisung durch Theodor Weinlig in Leipzig – weitgehend auf das Selbststudium angewiesen. In einem wunderbar bebilderten Vortrag ging Helmut Loos diesem Phänomen auf den Grund. Er erklärte, dass bereits der kleine Richard im steten Kontakt zur Bühne und zu Shakespeare aufwuchs. Das Theater nahm er mit der „Muttermilch“ auf; seine Begeisterung für den Freischütz ist bekannt. Doch es finden sich noch weitere Quellen in Sachsen: Im Leipzig des Jahres 1828 wartete man im Gewandhaus mit einer ganzen Reihe Beethovenscher Kompositionen auf; in den hiesigen Verlagen gehörte er zum Repertoire. Eigentlich verdankte Beethoven dem überragenden Verlagswesen in der Messestadt seine internationale Bekanntheit. Kein Wunder, dass der jugendliche Wagner zunächst im Stile des verehrten Meisters das Komponieren übte. Loos bot dem andächtig lauschenden, reichlich anwesenden Publikum eindrucksvolle, klingende Analysen früher Werke: Überdeutlich spürte man die Beethovensche Schreibart, sowohl in Wagners früher d-Moll-Ouvertüre (nach Beethovens Egmont-Ouvertüre) als auch in seiner C-Dur-Sinfonie. Wagner war doch weitaus mehr ein Sachse als man ahnt; hier liegen die Wurzeln zu seiner späteren Meisterschaft! Schließlich präsentierte Loos noch weitere Beispiele, die der Theorie vom „Originalgenie“ (Künstler entwickeln ihren Stil quasi aus sich selbst heraus) widersprechen: Wagner experimentierte in Die Feen deutlich mit dem Stil C.M. von Webers, beim Liebesverbot versuchte er sich am Sujet der Opera buffa. Erst danach fand der Meister in Rienzi und weiteren Opern zu seinem unverwechselbaren Stil. Die Besucher dankten für den an Bildern und Musikbeispielen reichen Vortrag mit extra langem Applaus.

Birgit Heise