„Ich wollte alles werden, nur keine Opernsängerin!“

Opernplauderei spezial mit Kammersängerin Sigrid Kehl zum 90.

Schon Monate vorher war die Veranstaltung im Konzertfoyer der Leipziger Oper ausverkauft, ein Zeichen dafür, dass Sigrid Kehl im Gedächtnis des Leipziger Publikums noch immer als Bühnendarstellerin der Leipziger Opernszene in über 70 Rollen präsent ist, obwohl sie ihre künstlerische Laufbahn bereits 1990 beendete. Die Oper habe wegen der großen Nachfrage die Anzahl der Plätze auf 160 erhöhen müssen und damit die Kapazitätsgrenze erreicht, teilte Chefdramaturg Dr. Christian Geltinger in seiner Begrüßungsansprache mit. In Vertretung von Intendant und Generalmusikdirektor Prof. Ulf Schirmer würdigte er die Jubilarin als beeindruckende Persönlichkeit und aktive Beobachterin des kulturellen Geschehens, die allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sei.

Moderator Rolf Richter, Grandseigneur der Leipziger Journalistenszene, erschien in Anspielung an Sigrid Kehls Glanzrolle als Octavian im „Rosenkavalier“ mit einer roten Rose und eröffnete das kurzweilige Gespräch am Sonntag, dem 1. Dezember 2019, mit den Worten Ilja Ehrenburgs: „Jeder Mensch hat nur ein Leben, müsse aber viele Leben leben, Glück und Leid durchleben. Wir reden aber heute nur vom Glück.“ Und daran hielt man sich auch.

Wo denn ihre Karriere begonnen habe, wollte Rolf Richter von Sigrid Kehl wissen, und die Diva ohne Starallüren antwortete zum Erstaunen ihrer Fangemeinde, dass sie nicht wie allgemein angenommen im Haus Dreilinden (heute Musikalische Komödie) in Leipzig debütierte, sondern als Komische Alte an der Staatsoper Berlin. Hier hatte sie bereits in Studentenaufführungen im Studio mitgewirkt. „Ja“, „am Anfang spielen die Jungen die Alten“, schmunzelte Rolf Richter, und so konnte man sie als Mamma Lucia in „Cavalleria rusticana“ oder Witwe Browe in „Zar und Zimmermann“ erleben. Joachim Herz entdeckte ihr schauspielerisches Talent und besetzte sie in „Falstaff“, einer großartigen Inszenierung, als Mrs. Quickly, wo sie sich mit den Tücken der Shakespearebühne mit ihren verschiedenen Spielorten arrangieren musste.

Ins Haus Dreilinden kam Sigrid Kehl eigentlich zum Vorsingen für den Schumann-Wettbewerb. „Ich wollte alles werden, nur keine Opernsängerin“, lachte sie, plante wegen ihrer Körpergröße eine Laufbahn als Konzertsängerin. Dort hörte sie Generalmusikdirektor Helmut Seydelmann und engagierte sie vom Fleck weg, log ihr sogar vor, große Herren für sie organisiert zu haben. Zum Glück blieb sie auch dem Kunstlied treu, entsprechend ihrem Motto: „Das Lied ist eine komprimierte Form des Ausdrucks.“ Besonders verbunden fühlte sie sich Robert Schumanns „Frauenliebe und -leben“. So innig und anrührend war wohl „Du meine Seele, du mein Herz“ selten zu hören, und das Publikum belohnte die Aufnahme mit reichem Beifall.

Manche Anekdote wurde an diesem launigen Vormittag zum Besten gegeben. Rolf Richter schwärmte von Sigrid Kehls Fürstin Hélène in „Krieg und Frieden“, wo sie als wunderschöne junge Frau elegant zusammen mit dem Zaren auftrat. Die elegante Geste wurde ausdauernd geprobt, und sie übte sie noch, als sie bereits auf der Bühne sang und von Joachim Herz unsanft darauf aufmerksam gemacht werden musste. Richard Wagner begleitete sie ein Leben lang. Zuerst trat sie in Italien im „Ring“ auf und sang Brünhilde in „Siegfried“ nach intensivem Rollenstudium. Die Premiere in Neapel begann um 0.20 Uhr. Im Duett mit Hans Hopf als Siegfried erschien es ihr als das Wichtigste, am Ende ein schönes „c“ zu produzieren. Die Presse honorierte am nächsten Tag diese Anstrengungen und hob besonders die „assoluti“, die hohen Töne, hervor. Geadelt wurde Sigrid Kehls Küsterin in „Jenůfa“ von Elisabeth Schwarzkopf, eine der führenden Sopranistinnen ihrer Zeit, und das kam so: Einstudiert hatte sie die Partie, die ihr Leben prägte, mit dem legendären Gewandhauskapellmeister Václav Neumann. Neumann ging 1968 zurück in seine tschechische Heimat, als die Truppen des Warschauer Pakts dem Prager Frühling ein Ende bereiteten, dirigierte aber trotzdem noch die Premiere in Leipzig. Das Gastspiel in der Schweiz führte die Künstler auch nach Bern und Genf. Und dort wurde Sigrid Kehl dann von der „hohen Dame“ mit den Worten geehrt: „Wie machen Sie das mit den hohen Tönen? Ich muss Sie wirklich bewundern!“ In Prag sang sie unter großem Jubel des Publikums die Arie der Küsterin auf Tschechisch.

Obwohl bedauerlicherweise nur sehr wenige Vorstellungen aufgezeichnet wurden, blieb die mit unglaublicher Intensität gesungene und gespielte Arie der Küsterin auf einer Filmsequenz erhalten, ebenso wie die der Kundry in „Parsifal“. Als sensationelles Zeitdokument gilt heute das vom Fernsehen der DDR 1963 aufgezeichnete Weihnachtsoratorium mit den Solisten Peter Schreier, Günther Leib, Elisabeth Breul und Sigrid Kehl unter Thomaskantor Erhard Mauersberger und Konzertmeister Gerhard Bosse in der Paulinerkirche, von dem ebenfalls ein Ausschnitt zu sehen war.

Anknüpfend an den eingangs erklungenen Schlussgesang der Brünhilde aus der „Götterdämmerung“, erwies Holk Freytag, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, Sigrid Kehl seine Reverenz. Ihre Stimme triumphiere über das Grauen, so anrührend, so menschlich habe er diese Arie selten gehört. Er verneige sich vor der Lebensleistung der Künstlerin. Sigrid Kehls Ehemann Friedhelm Eberle, ebenfalls eine lebende Legende, ließ es sich nicht nehmen, beider Liebesgeschichte von der „ersten ehrfürchtigen Begegnung mit der Kehl“ über ein langes Zusammenleben bis zur Eheschließung nach 28 Jahren zu skizzieren. Die Beziehung begann mit einer Feierstunde 1963 in eben diesem Raum, wo sie zur „jüngsten Kammersängerin der DDR“ gekürt wurde. Dafür durfte er, welche Ehre und Auszeichnung, einen literarischen Beitrag liefern, wofür sie ihm wiederum huldvoll dankte. Minutiös listete Friedhelm Eberle alle Rollen seiner Frau auf, ihre Gastspiele, ihre Preise und ihre Mitgliedschaften, und er kümmerte sich dann auch liebevoll um den Abtransport der unzähligen Blumengebinde und Geschenke.

Vieles wurde noch angesprochen, was Sigrid Kehls reiches Künsterleben prägte. Ihre Amme in Richard Strauss’ „Frau ohne Schatten“, die sie mal dünn und quirlig in der Inszenierung von Joachim Herz in Leipzig, mal dick und schwerfällig mit zwei Säcken unter dem Gewand in der Inszenierung von Harry Kupfer in Berlin gab, aber immer hochprofessionell. Ihre Ariadne in der Übergangszeit zur hohen Lage, als ihr Generalmusikdirektor Paul Schmitz lapidar schrieb: „Na gut, es geht doch!“ Oder ihre faszinierende Eboli mit der dramatischen Arie „Mir bricht das Herz“ in „Don Carlos“. Und dann die Zeit nach dem Ende ihrer künstlerischen Laufbahn, als sie ihr Regietalent entdeckte und „Die Schöne und das Biest“ mit jungen Leuten inszenierte. Ensemblemitglied Kathrin Göring, die, begleitet von Peter Sommer am Flügel – mit ihm bestritt Sigrid Kehl unzählige Liederabende – ihrer Kollegin mit der „Zueignung“ von Richard Strauss („Habe Dank“) huldigte, gehörte seinerzeit zu den Chordamen.

Sigrid Kehls Botschaft an die Studenten der Musikhochschule, denen sie, geschätzt und geliebt, ihren Erfahrungsschatz weitergab, lautete, dass neben einer wunderbaren Stimme die Darstellung von Menschen auf der Bühne unabdingbar sei, eine Maxime, der sie selbst immer treu blieb. Danke, liebe Sigrid Kehl, für diesen unvergesslichen Vormittag und die kleine Nachfeier im Operncafé, wo wir mit Ihnen und Ihrem Mann auf Ihre Gesundheit anstoßen durften.

Ursula Oehme

Fotos: Ursula Oehme (12), Monika Stoye (1)