Ein Gedenkblatt für Rosalie Wagner

Bevor das Jahr 2023 zu Ende geht, möchte ich ein Ereignis schildern, das sich vor 190 Jahren auf der Bühne des Leipziger Theaters zugetragen hat.
Wohl allgemein bekannt ist die künstlerische Laufbahn der Schwester von Richard Wagner: Noch Mitglied eines Berliner Theaters, gibt Rosalie am 5. Juni 1827 in dem Schauspiel von Franz Ignaz v. Holbein „Das Alpenröslein“ ihre erste Gastrolle in Leipzig; dann, zurück in Leipzig, spricht sie am 2. August 1829 den Prolog vor dem Shakespeare-Stück „Julius Cäsar“; am 7. August tritt sie als Louise in Schillers „Kabale und Liebe“ auf; am 14. August begeistert sie das Leipziger Publikum in der Rolle der Sophie in dem Iffland-Stück „Die Aussteuer“; als Höhepunkt ihrer Laufbahn gilt ihre Rolle als Gretchen in der ersten Leipziger Inszenierung des „Faust“ am 28. August 1829 anlässlich seiner Uraufführung zu Goethes 80. Geburtstag.

Weniger bekannt dagegen dürfte ihre Rolle als Hauptdarstellerin in dem historischen Ritterschauspiel „Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe“ des Dramatikers Heinrich von Kleist in der Leipziger Vorstellung am 14. April 1833 sein. (Hier soll es nur darum gehen, nicht um Wertungen aus anderer Sicht.) Eine Besprechung ihres Auftritts zwei Tage später im Tageblatt liest sich wie eine nicht enden wollende Liebeserklärung an die Kleist’sche Figur und ihre Darstellerin, die fast eine ganze Zeitungsseite einnimmt. Schon die einleitenden Sätze mögen ein Beleg dafür sein:
„Was für ein süßes, liebes Kind ist dieses Käthchen! Der Dichter hat es aus Duft und Licht gewebt und ihm den Schleier der Poesie über das rosige Antlitz gestreut. Und durch den Schleier hindurch strahlt ein Stern; der glänzt und blinkt Euch in das Herz hinein und begleitet Euch in Freuden und Leiden durch das Leben und erschließt selbst die Pforten des Grabes. Das ist der Stern der Romantik und der Sehnsucht!“
Nach weiteren ähnlichen Bemerkungen folgt ein Zitat aus dem 1. Akt, 2. Auftritt mit Deutung:
„Vor die Richter gerufen, sich zu vertheidigen, ist ihr erster Gedanke Angst um den Geliebten und ihr ersten Wort sein Lob. An sich denkt sie gar nicht. ‘Steht gleich vom Richterstuhl auf und räumt ihm diesem! / Denn, beim lebend’gen Gott, ich sag’ es Euch, / Rein wie sein Harnisch ist sein Herz.’ – Ängstlich, beklommen, aber zugleich stolz auf den Werth des Vertheidigten, sprach die geistreiche Darstellerin (Dem. Wagner) diese einleitenden Worte. Sie soll sich rechtfertigen. Aber ihre ganze Seele ist von einem Bilde – von ihm – erfüllt, und für den Frühling von Gefühlen, der in ihrem Herzen keimt, findet der Mund keine Worte. ‘Das soll ich hier vor diesen Männern sagen?’ meint sie. Er und immer nur er steht vor ihrer Phantasie; in ihn geht sie geistig und körperlich auf und unter; so mächtig ist das geheimnisvolle Band. ‘Wenn Du es wissen willst, so rede, / Denn Dir liegt meine Seele offen da.’
Eine wunderbare Modulation und Andeutung des inneren Lebens liegt in den verschiedenen ‘mein hoher, mein verehrter Herr.’ Sie denkt sich als seine Magd und immer bleibt er der hohe, verehrte Herr. Dem. Wagner legte in diesem Theile der Rolle eine tüchtige künstlerische Ausbildung und zugleich einen eminenten Verstand an den Tag. Bald war das ‘hohe Herr’ ein sehnsüchtiger, liebeseliger Klang, der so recht aus tiefer Brust hervorquillt, bald ein rascher Schmerzenslaut über das Verkanntwerden des lauteren Gemüthes, und bald der dienende Ausdruck des Mädchens, welches sich selig als Magd des Geliebten fühlt. Man könnte über dieses ‘hoher Herr’ und die verschiedene Bedeutung desselben ein ganzes Buch schreiben, so geistig, so bedeutsam und so zart hat es der Dichter dem Käthchen in den Mund gelegt. … Dem. Wagner war ein Käthchen, wie wir sie uns in der Phantasie dachten, und wir machen gewiß strenge Anforderungen, da wir durchaus nicht jeden berufen glauben, uns ein solches Meisterwerk vorzuführen. Namentlich ist es der künstlerische Verstand, verknüpft mit einer blühenden Phantasie, welcher uns bei dieser Dame so lobenswert erscheint. Unter künstlerischem Verstand meinen wir die Fähigkeit, den Stoff zu beherrschen, ihn zu ordnen und zu gruppiren. Das versteht Dem. Wagner vortrefflich, und darum weiß sie auch der undankbarsten Rolle eine pikante Seite abzugewinnen. Namentlich gelingen ihr die Uebergänge und die Motivirung der einzelnen Theile in einer Rolle, und oft hat sie bei uns zu einem besseren Verständniß des Kunstwerks und zu einem neuen Licht über dasselbe beigetragen. Und selbst da, wo eine gewisse Manier sie manches Verfehlte liefern läßt, hat ihre Darstellung noch einen großen Reiz, weil ihr das Streben nach dem Besseren zum Grunde liegt und weil bei ihr das Fehlerhafte nicht aus Mangel, sondern aus Ueberfluß der künstlerischen Kräfte und Fähigkeiten entsteht. Die wahrhaften Kunstfreunde bedauern es daher sehr, daß sie so wenig in Hauptrollen beschäftigt wird.
‘J.’ “

Peter Uhrbach