Der gottgesandte Mann im Pullover und ein blinder Telramund – „Lohengrin“ als Kammerspiel an der Oper Leipzig

„Sie wolle Lohengrin nicht als Märchen erzählen und sein plötzliches Erscheinen nicht überirdisch erklären. Auch würden die klischeehaften Schablonen von Gut und Böse in ihrer Inszenierung in Frage gestellt“, machte die Leiterin der Bayreuther Festspiele Katharina Wagner ihre Anhänger in Barcelona und Leipzig auf ihre Lesart der Oper ihres Urgroßvaters neugierig, die als Kooperation beider Opernhäuser vorgesehen war. Während die für den 19. März 2020 geplante Premiere in Barcelona coronabedingt abgesagt wurde, brachte man am 1. November in Leipzig wenigstens eine Light-Version von Hausregisseur Patrick Bialdyga auf die Bühne, bevor die Oper aus eben diesem Grund für viele Wochen schließen musste. Leider kam Katharina Wagner auch nach der Wiedereröffnung nicht zum Zug, um das in Barcelona Begonnene in Leipzig zu vollenden. Intendant und Generalmusikdirektor Prof. Ulf Schirmer „habe die Situation zu optimistisch bewertet. Die notwendigen technischen Anpassungen und Weiterentwicklungen seien wegen des Zeitmangels nicht mehr seriös umzusetzen“, hieß es bedauernd kurz vor Probenbeginn Anfang Februar 2022. Um das ehrgeizige Ziel, zu den Festtagen WAGNER 22 alle 13 Opern präsentieren zu können, nicht zu gefährden, übernahm Patrick Bialdyga kurzfristig die Produktion, sodass die „Lohengrin“-Premiere pünktlich am 26. März 2022 stattfinden konnte. Obwohl erst relativ spät mit der neuen Situation konfrontiert, brauchte Bialdyga in der Kürze der Zeit nicht bei Null anzufangen, denn er konnte sich in mancher Hinsicht bei seiner Light-Version bedienen. So kehrten die langen Tische zurück, an denen die Unvereinbarkeit der Charaktere und ihrer Absichten nicht besser hätten demonstriert werden können, und die, zusammengeschoben, auch als Brautbett dienen.

An Katharina Wagners Einschätzung nicht interessiert, stand für Bialdyga das Problem der Einsamkeit aller sechs Protagonisten im Vordergrund, was entsprechend seinen Intentionen nur in einem intimen Rahmen als Kammerspiel funktioniert. Deshalb wird man die bei Richard Wagner vorgesehenen sächsischen, thüringischen und brabantischen Grafen und Edle, die das Geschehen beleben, vergeblich auf der Bühne suchen. In der Light-Version spielte das Gewandhausorchester auf der Bühne, der Chor sang mangels Platz aus dem Off, hier ist er gewollt unsichtbar und – als Kommentator des Geschehens – manchmal im Hintergrund auch sichtbar, aber immer als Chor zu erkennen, wobei die Damen in schwarzen Kleidern, die Herren in anthrazitfarbenen Anzügen auf den bereitstehenden Stühlen Platz nehmen dürfen, wenn sie nicht gebraucht werden. Den Akteuren wird Besonderes zugedacht und abverlangt, was sie hervorragend bewältigen. König Heinrich (Günther Groissböck) beispielsweise kommt allein nach Brabant, um Recht zu sprechen, und ist nicht einmal ordentlich vorbereitet, muss er sich doch erst vergewissern, wer Friedrich von Telramund (Simon Neal) eigentlich ist. Der ist schon in der Light-Version blind, auch hier agiert er mit Blindenstock und dunkler Brille. Erblindet in der Schlacht gegen die „wilden Dänen“, spielt er trotzdem leidenschaftlich gern Schach, um den Gegner matt zu setzen. Da Elsa ihn abgewiesen hat, fühlt er sich als Mann zutiefst verletzt; deshalb klagt er sie des Brudermordes an. Seine Frau Ortrud (Kathrin Göring) stört seine Gedankengänge durch ihre „schwarze Magie“. Indem sie die Figuren zieht, bringt sie ihren Mann durcheinander und um seinen Erfolg. Ortrud ist die Businessfrau im blauen Hosenanzug, die personifizierte Intrigantin, die Strippenzieherin, stets präsent, um Elsa im weißen Unschuldsgewand (Gabriele Scherer) herumwuselnd, sich andienend oder herrschsüchtig tobend, immer ihr Ziel vor Augen, Elsa und Lohengrin auseinanderzubringen. Dass sie nur die zweite Wahl für Telramund war, hat ihr Leben vergiftet. Weil sie Lohengrin (Klaus Florian Vogt) nicht haben kann, gönnt sie ihn auch der Rivalin nicht. Als Ersatz macht sie sich an den Heerrufer (Mathias Hausmann) heran, der ihre Ansprüche kraft seiner Pistole bei Lohengrin und Elsa durchzusetzen versucht und sie schließlich vom Selbstmord abhält. Sie glaubt an die Macht der Karten, deshalb ist ein Tarotspiel ihr wichtigster Verbündeter. Nicht von ungefähr bietet sie Elsa an, für sie in die Zukunft zu schauen. Drei der wichtigsten Karten, den Tod, den Teufel und den Turm, legt sie Elsa in den Umschlag, den diese dann im Brautgemach im Duett mit Lohengrin findet. Schon am Anfang gibt sie zu erkennen, dass sie das Verschwinden Gottfrieds bewerkstelligt hat, indem sie Elsa die Kleidung ihres Bruders vor die Füße wirft. Die versucht dann, ein wenig Selbstvertrauen zu gewinnen, indem sie dessen Schuhe und Jacke anzieht. Es ist kein Zufall, dass Elsa in der Jacke ihres Bruders Schwanenfedern entdeckt. Schwanenfedern regnet es dann auch vom Himmel, als Lohengrin erscheint, eine Glaskugel mit dem Schwan unter dem Arm, der „fremde gottgesandte Mann“, der so gar nichts Außerirdisches an sich hat, sondern wie der Nachbar von nebenan im Pullover zu einem kleinen Plausch vorbeischaut. Dabei geht es um Elsas Schicksal, das er mit der Kraft des Übersinnlichen, ohne Schwert, zu wenden vermag. Gibt es das Übersinnliche, das Wunderbare? „Ja“, sagt der Regisseur. Ist der Schwan kitschig oder ein Wunder? Was verbindet Elsa und Lohengrin? Die Utopie der Liebe. Lohengrin darf sich eigentlich nicht verlieben, weil das in Montsalvat nicht üblich ist. Und Sex geht schon gar nicht. Also wird die verbotene Frage gestellt, und Lohengrin zieht nach der „Gralserzählung“ wieder von dannen. Mit dem Schwanenglas unter dem Arm. Am Ende wird Jungspund Gottfried (Björn Dreyer) doch entzaubert und nicht erst nach einem Jahr, damit er sich schon mal die Krone aufsetzen und als neuen Herrscher von Brabant ausprobieren kann. Eine Persiflage auf die Utopie der Macht?

Die Oper Leipzig kann sich glücklich schätzen, mit Klaus Florian Vogt den weltweit gefeierten Lohengrin par excellence verpflichtet zu haben, dessen strahlender Heldentenor eine einzigartige Besetzung garantiert und den schon Katharina Wagner für die Titelpartie gewann. Hinsichtlich ihrer sängerischen und schauspielerischen Qualitäten behaupten sich Günther Groissböck als König Heinrich, Simon Neal als Telramund, der bereits wie Mathias Hausmann als Heerrufer in der Light-Version glänzte, wie auch Kathrin Göring als Ortrud und Gabriele Scherer als Elsa als ihm ebenbürtige Partner. Starker bis stürmischer Beifall, in den sich nur einige schüchterne, bald verstummte Buh-Rufe verirrten, belohnten die Künstler, Kapellmeister Christoph Gedschold (der ab dem Sommer als Musikdirektor Verantwortung tragen wird) und die Gewandhausmusiker, den Chor und Zusatzchor mit Chorleiter Thomas Eitler-de Lint sowie das Regieteam für ein großartiges Opernerlebnis.

Freudig anstoßen auf die gelungene 13. Oper im Reigen von Richard Wagners Werken und die kulinarischen Köstlichkeiten genießen, die Torsten Reh wie gewohnt großzügig zur Verfügung gestellt hatte und mit Klaus-Michael Weinmann dekorativ arrangierte, konnten die Mitglieder des Richard-Wagner-Verbandes und ihre Gäste während des Pausenempfangs nach dem ersten Aufzug. Auch war der Verband wieder im Foyer mit einem Tisch präsent, den Vorsitzender Prof. Dr. Helmut Loos selbst betreute.

Ursula Oehme

Szenenfotos: Kirsten Nijhof/Oper Leipzig
Foto Pausenempfang: Richard-Wagner-Verband Leipzig