Das Mittelalter in den Musikdramen Richard Wagners: Wo ist König Artus?

Für die Vorbereitung auf die diesjährige Neuinszenierung der Festspiele hat sicherlich wieder der eine oder andere zu Wolfram von Eschenbachs Parzival-Epos gegriffen. Was einen dort in über 20.000 paarweise gereimten Versen erwartet, ist ein großartiges Epos, in dessen Verlauf der Ritter Parzival auf seiner Suche nach dem Gral zwischen seinen Abenteuern stets an den Hof des König Artus zurückfindet.

Zum unverzichtbaren, engeren Kreis der Tafelrunde um Artus gehört neben Parzival und seinem Sohn Lohengrin auch Sir Tristan mit seinem König Marke, ebenso wie die Gralsbotin Kundry und der Widersacher und Zauberer Klingsor. Diese Namen sind bestens aus den Musikdramen Richard Wagners bekannt, seine Mittelalter-Rezeption steht klar im Kontext der Artus-Romantik ihrer Zeit. Wieso also findet König Artus nicht einmal am Rande Erwähnung in Wagners Schaffen?

Die Rolle der Dresdener Bibliothek

Eine Spurensuche nach Artus nimmt ihren Anfang bei der Frage nach den stofflichen Grundlagen der Opern. Wie Curt von Westernhagen überzeugend anführt, beruhen nach dem „Holländer“ alle, auch die erst später dichterisch und musikalisch ausgeführten Dramen auf Büchern seiner Dresdener Bibliothek [1, S. 28]. Wagner selbst bestätigt in „Mein Leben“, dass er sich bei der Konzeption des „Tristans“ ganz auf seine „Dresdner Studien“ stützen habe können [2, S. 524], obwohl ihm zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner Flucht aus Dresden seine Bibliothek gar nicht mehr zugänglich war.

Bei einem Blick auf die Liste dieser Bibliothek findet man dementsprechend verschiedenste Anhaltspunkte für seine Auseinandersetzung mit der Literatur des Mittelalters. Erwähnung findet dabei zum Beispiel die Artus-Sage in der Ausgabe von San-Martre aus dem Jahr 1842, außerdem Editionen der Artus-Romane von Hartman von Aue, darunter „Erec“ und „Iwein“, sowie von Ulrich von Zatzighovens „Lanzelet“ und Wirnt von Grafenbergs „Wigalois“. Zusätzlich zu diesen Werken gab es in seiner Sammlung verschiedene Editionen und Übersetzungen von Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ und Gottfried von Straßburgs „Tristan“. Auch in Jacob Grimms „Deutsche Mythologie“ und Karl Simrocks „Heldenbuch“ findet die Tafelrunde und ihre Ritter reichlich Erwähnung [1].

Folglich ist Wagner bestens mit der Rolle der Figur des Königs Artus betraut, er schreibt am 10. August 1859 an Mathilde Wesendonck über die Geschichte von „Erec und Enite“:

„Dafür will ich Ihnen eine alte Geschichte erzählen, die vor einiger Zeit ihrer Eigenthümlichkeit und tiefen Charakteristik wegen grossen Eindruck auf mich machte. In einem Band des Gr. v. Villemarqué »Les contes des anciens Bretons«, worin ich, nach dem Mabinogion, die ältesten Gestaltungen der später von französischen Dichtern behandelten Sagen z.B. von Artus, Parcival, Tristan u.s.w. fand, traf ich auch auf das Gedicht von Erec und Enide, welches ich nach einer mittelalterlichen deutschen Bearbeitung in meiner ehemaligen Dresdener Bibliothek noch »besitze« […].“ [3]

Dieser Brief zeigt, dass er sich selbstverständlich der Figur des Königs Artus bewusst ist und sie in einem Atemzug mit Parzival und Tristan nennt. Dies, im Übrigen, ist die einzige explizite Erwähnung von Artus in der Primärliteratur zu Wagner. Weder Cosimas Tagebücher noch Glasenapp können weiterhelfen, auch eine Suche in den Gesammelten Schriften und Dichtungen geht leer aus. Diese Abwesenheit irritiert und erweckt fast den Eindruck der Vermeidung.

Stoffliche Herkunft der einzelnen Musikdramen

Im Detail kann man die stoffliche Herkunft der Dramen mit Mittelalter-Bezug untersuchen und sich fragen, welche Quellen für Wagner wesentlich waren und welche Rolle der Sagen-Kreis um Artus jeweils spielt.

Zunächst zeigt ein Blick auf den „Tannhäuser“ und die „Meistersinger“, dass diese zwar das Mittelalter rezipieren, aber stofflich keinerlei Verwandtschaft zum Artus-Sagenkreis haben. Darüber hinaus spielen diese Dramen auf der Realitätsebene derer, die die Epen um Artus, Parzival und Tristan überhaupt erst in das kulturelle Gedächtnis gebracht haben: Wolfram von Eschenbach überliefert seinen „Parzival“, Hans Sachs verewigt 1553 eine Bearbeitung von „Tristan und Isolde“.

Auch beim „Ring des Nibelungen“ muss konstatiert werden, dass es sich bei allen verwendeten stofflichen Grundlagen um einen getrennten Sagenkreis handelt. In Wagners Form der Umdichtung entfernt er die ursprünglich höfisch-christlichen Bezüge der Geschichte und verknüpft sie mit dem germanischen Sagenkreis. Ein weiterer gekünstelter Bezug auf eine christliche Ritter-Geschichte würde nichts einbringen.

Ganz so einfach lässt sich die Abwesenheit des König Artus im „Lohengrin“, „Tristan“ und „Parsifal“ jedoch nicht rechtfertigen. Der „Lohengrin“ verbindet zwei getrennte Sagenkreise, nämlich die der Schwanenritter und die der Gralsritter. Dabei sind nur wenige Werke von Wagner in den Quellen bereits so umfassend vorbereitet.

Wagner hört vermutlich zum ersten Mal vom „Loherangrîn“ im „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach (um 1210), wobei dort Lohengrin als dessen Sohn ausgewiesen wird. Ebenso ist dort die Geschichte einer bedrängten Fürstin von Brabant geschildert, für deren Recht der auf dem Schwan eintreffende Lohengrin streitet, um eine Zwangsheirat zu verhindern. Auch der Bruch des Frageverbots ist geschildert [4, Parzival, 16. Buch, Strophe 823ff.]. Bei Wolfram ist Lohengrin der Nachfolger seines Vaters Parzivals in der Rolle des Gralskönigs, Lohengrins Bruder Kardeiz wiederum tritt die Nachfolge seines Vaters als weltlicher Herrscher an. Lohengrin ist somit der höfischen Welt um Artus entzogen.

Noch deutlich dichtere inhaltliche Übereinstimmung hat Wagners Drama mit dem „Bayerischen Lohengrin“ eines unbekannten Autors (vor 1286), den Joseph Görres 1813 herausgibt und dessen Entstehung damit zwei Generationen nach Wolfram anzusiedeln ist. Dort wird die Not Elsas von Brabant dem König Artus bekannt, der mit Lohengrin einen seiner besten Gralsritter nach Antwerpen losschickt. Auffallend ist, dass in dieser Fassung die Tafelrunde und Gralsburg gleichgesetzt werden.

Die Tradition, Lohengrin im Kreis der Tafelrunde zu verorten, zieht sich durch das Mittelalter hin fort [5]. Dies erweckt den Eindruck, dass König Artus bewusst ausgelassen wurde. Es lässt sich mutmaßen, dass seine Erwähnung eine weitere weltliche Machinstanz eingeführt hätte, die Inkohärenz schaffen würde zwischen übernatürlicher Gralswelt und realistischem Handlungsort der Oper, die durch die Erwähnung von Heinrich dem Vogler und der Ungarn-Kriege bewusst versucht wird, historisch anzulegen. Es ist wahrscheinlich im Interesse der Dramaturgie, König Artus auszulassen.

Neben den Sagen von König Artus und den Gralsritter, ist der Stoff um den Ritter Tristan die wohl am meisten bearbeitete Geschichte des Mittelalters. Die einzige Sicherheit in der Bestimmung ihrer Herkunft ist, dass sich keine Urfassung isolieren lässt. Vielmehr vereinen sich verschiedene keltische, bretonische und walisische Sagen zu einer neuen Variante des Stoffs. Quellen lassen auf eine erste Niederschrift zwischen 1150 (Chétiens de Troyes und Béroul) und 1170 (Thomas de Bretagne) schließen, wobei die älteste, gesicherte, deutschsprachige Fassung auf Eilhart von Oberg aus dem Jahr 1190 zurückgeht. Für die andauernde Rezeption ist die Fassung des Minnesängers Gottfried von Straßburg entscheidend geworden, die um 1210 entstand und die Wagner zuerst in der hochdeutschen Fassung von Hermann Kurz (erschienen 1844) gelesen haben dürfte.

Im Vergleich von Wagners Drama mit Gottfrieds Epos ist eine massive Verschiebung in der Psychologie der Personen zu bemerken. So wird König Markes bei Gottfried als grausamer Tyrannen beschrieben. Während dieser bei Wagner als am Ende milder und verständnisvoller Freund charakterisiert wird. Auch strafft Wagner zugunsten der Dramaturgie und Spannung die ganze Nebengeschichte um die „zweite“ Isolde „Weißhand“, mit der sich Tristan bei Gottfried unglücklich vermählt, um dann doch nicht mit „seiner“ Isolde abschließen zu können. Dies verändert den Charakter Tristans dahingehend, dass er in seinen Beziehungen zu beiden Isolden charakterlich viel inkonsistenter wirkt. Zudem ist die Wirkung des Liebes-Elixiers bei Gottfried deutlich mächtiger; man kann davon sprechen, dass die beiden Geliebten unfrei in den Tod getrieben werden. Bei Wagner hingegen ist der Liebestrank nur Auslöser. Tristan und Isolde sind freie Menschen, die in ihrer unbändigen Sehnsucht zueinander finden und wollen [7, vgl. S. 251f.]. Dies sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, dass Wagner nicht ganz überzeugt war von Gottfrieds Ausführung des Stoffs. Diese Unzufriedenheit verschriftlicht Wagner selbst in einem Brief an Mathilde Wesendonck am 30. Mai 1859 [3].

Sehr früh werden die Abenteuer des Tristan bereits über ihre teils keltische Herkunft und ihre Schauplätze in Cornwall und Irland in die Artus-Welt inkludiert. Neben Lanzelot und Parzival gehört dort Sir Tristan zu den wichtigsten Rittern der Tafelrunde, wie die 1522 bemalte, runde Tafel in der Großen Halle von Winchester Castle zeigt. Diese Verknüpfung von Tristan und Artus-Sagenkreis spielt jedoch für Wagner mit Gottfrieds Vorlage kaum eine Rolle. Tatsächlich wird König Artus in Gottfrieds Tristan nur sehr beiläufig erwähnt [8, 27. Buch, „Die Minnegrotte“]. Die ursprüngliche Tristan Saga wurde wahrscheinlich erst nachträglich in den Artus Sagenkreis involviert, sodass es ursprüngliche Tristan Sagen ohne Artus, aber keine prominente Artus-Sage ohne Tristan gibt. Dass Wagner sich der Verbindbarkeit bewusst ist, zeigt ein sehr früher Entwurf des „Parsifals“. In diesem überlegt er, Parsifal während der Suche nach dem Gral den verwundeten Tristan treffen zu lassen [7, S. 243]. Da Wagner die Tristan-Sage in mehreren Varianten in seiner Dresdener Bibliothek vorliegen hatte, muss er sich aufgrund seiner Belesenheit gerade gedrängt gefühlt haben, die Urgestalt, bzw. Idealgestalt der Sage zu suchen [1, S. 26], was konsequent zur Auslassung der Verknüpfung zum Artus-Sagenkreis führt.

Die 1522 bemalte runde Tafel aus der Großen Halle von Winchester Castle, der die Tafelrunde des legendären König Artus darstellt. Der Platz des vierten Ritters im Uhrzeigersinn vom König aus ist bezeichnet mit „S pcyvale“ (Sir Percival), der des sechsten Ritters mit „S trystram delyens“ (Sir Tristan de Lyoness) [6].

Die Oper „Parsifal“ dominiert die deutschsprachige Rezeption des Artus-Sagenkreises [9]. Die ursprünglichste Form der Geschichte des Parzivals findet sich bei Chrétien de Troyes „Perceval“ in französischer Sprache, wobei das Buch vor 1191 geschrieben wurde. De Troyes erweitert zudem erstmalig die Artus-Sage um das Motiv der Grals-Suche. Die Geschichte des Ritters Parzival ist deshalb die mit am tiefsten in den Artus-Sagenkreis integrierte.

Wenige Jahre später, um das Jahr 1210 findet die Geschichte ihre erste deutsche Rezeption im „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach. Diese Fassung wird im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum maßgebliche Beachtung finden. Der Gral hat jedoch bei de Troyes und Wolfram keinen christlichen Bezug; es handelt sich um eine heilsbringende Schale (de Troyes) oder einen Stein (Wolfram). Erst ihr französischer Zeitgenosse Robert de Boron stellt in „Estoire dou Graal“, bzw. „Joseph d’Arimathie“ die Verbindung zwischen dem Gral und dem christlichen Abendmahls- oder Passionsgefäß her. In der deutschsprachigen Literatur dauert es bis zu Albrechts „Jüngerem Titurel“ (vor 1275), bis diese christliche Interpretation Einzug hält [11]. Wagner ist sich dieser Unterschiede bewusst, infolgedessen diskutiert er in einem Brief vom 30. April 1859 an Mathilde Wesendonck die Implikationen der christlichen Herkunft des Grals. In Summe ist der für Wagner so wesentliche christliche Bezug in der Vorlage Wolframs jedoch nicht angelegt.

Es lassen sich weitere Beispiele anführen, bei welchen Wagner signifikant von der stofflichen Vorlage Wolframs abweicht. So kämpft bei Wolfram der Ritter Gawan gegen den Zauberer Klingsor, nicht Parzival. Gawan spielt bei Wagner eine sehr untergeordnete Nebenrolle. Deutlich schwerwiegendere Unterschiede sind in der Persönlichkeitsentwicklung Parzivals zu finden. So kommt Parzival bei Wolfram nicht als unerfahrener, unschuldiger Mann nach Montsalvant, sondern hat bereits Schuld auf sich geladen durch den Kampf gegen den Roten Ritter. Ein Bezug auf diese Vorgeschichte Parzivals am Hofe König Arturs würde das gesamte Konzept des „reinen Tore“ bei Wagner zunichtemachen. Als bei Wolfram Parzival nach der ersten verpassten Gelegenheit, Gralskönig zu werden, Montsalvant wieder verlässt, schwört er Gott ab und zieht sich in weltliche Abenteuer zurück, bis er, nachdem er gereift ist, ein zweites Mal vom Gral gerufen wird. Dies widerspricht grundsätzlich der Konzeption der Figur des Parsifal bei Wagner, der nach bestandenem Kampf gegen das Böse zum Gralskönig erhoben wird. In Summe ist das Konzept des in Reinheit suchenden Jünglings inkohärent mit der Vorlage Wolframs. Eine Erwähnung König Artus bei Wagner würde womöglich logische Widersprüche nach sich ziehen.

Bei Wolfram ist der Königs-Hof die Gegenwelt zu Montsalvant, in die Parzival nach vertaner Prüfung zurückfällt. Bei Wagner ist diese Polarität, der örtliche Raum zur Entwicklung, durch Klingsors Zaubergarten geschaffen.

Diese Vergleiche zeigen, wie groß die konzeptionellen Unterschiede zwischen Wagners Drama und der literarischen Grundlage sind. Wagner selbst spricht davon, dass er von der ursprünglichen, deutschsprachigen Fassung des Parzivals von Wolfram wenig hält. In einem Brief an Mathilde Wesendonck vom 30. Mai 1859 schreibt er:

„Sehen Sie doch, wie leicht sich’s dagegen schon Meister Wolfram gemacht! Dass er von dem eigentlichen Inhalte rein gar nichts verstanden, macht nichts aus. Er hängt Begebniss an Begebniss, Abenteuer an Abenteuer, giebt mit dem Gralsmotiv curiose und seltsame Vorgänge und Bilder, tappt herum und lässt dem ernst gewordenen die Frage, was er denn eigentlich wollte? Worauf er antworten muss, ja, das weiss ich eigentlich selbst nicht mehr wie der Pfaffe sein Christenthum […]. Wolfram ist eine durchaus unreife Erscheinung, woran allerdings wohl grossentheils sein barbarisches, gänzlich confuses, zwischen dem alten Christenthum und der neueren Staatenwirthschaft schwebendes Zeitalter schuld. In dieser Zeit konnte nichts fertig werden.“ [3]

In der Auseinandersetzung mit der stofflichen Herkunft aller drei im Artus-Kreis angelegten Dramen zeigt sich, dass sich Wagner sehr wohl der Verflechtung der Erzählungen im Artus-Sagenkreis bewusst war. Für die Gründe der bewussten Auslassung des König Artus können einige Mutmaßungen angestellt werden. Teils würde seine Einbeziehung der erfolgten Umkonzeption der Handlung widersprechen (Parsifal) und die Polarität der Dramaturgie durch weitere Macht- oder Handlungsebenen schwächen (Lohengrin, Parsifal). Des Weiteren würde eine Einfügung teils künstlich wirken oder den gesuchten „Urstoff“ verzerren (Tristan). Ein Bezug als reine Referenz an den Autor (Wolfram) und der Vollständigkeit halber ist nicht zu erwarten, da Wagner bewusst kritisch Abstand nimmt und sich den stofflichen Grundlagen nur eingeschränkt verpflichtet fühlt. Es ist, abschließend, in allen Fällen nicht im Interesse des Werks, König Artus und seinen Sagenkreis explizit zu erwähne. Eine Rezeption, nur der Referenz Willen oder um Aufmerksamkeit zu erheischen (neudeutsch „Namedropping“) wäre unnötig, oder, wie im nächsten Abschnitt ausgeführt, geradezu kontraproduktiv für die Rezeption der Musikdramen.

Rezeptionsgeschichte der Artus-Sage bis in die Moderne

Bei einer genaueren Analyse des zeitgenössischen Umfelds Richard Wagners lassen sich weitere Motive ableiten, die die These einer bewussten Vermeidung der Erwähnung des König Artus bestärken.

Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Artus-Mythos hilft dabei weiter. Nachdem es um 830 zur ersten Erwähnung eines Heerführer Artus in der „Historia Brittonum“ des walisischen Mönches Nennius kommt, intensiviert sich nach der Eroberung Englands durch die Normannen im Jahr 1066 die Rezeption des Mythos. Dabei greift vor allem der Normanne Heinrich II., der von 1154-1189 herrscht, auf die Artus-Sage als “genealogische[n] Legitimations-Mythos” [9] zurück. Artus stellt dabei eine Integrationsfigur aus der Zeit vor der sächsischen Invasion dar, da in der Artus-Sage stets auch die Einheit bestehend aus keltischem König Artus und französischen Rittern wie Lancelot beschworen wird und man sich somit auf eine gemeinsame Identität vor den Sachsen berufen kann. Nicht zufällig „findet“ man 1190/91 das Grab von König Artus und dessen Ehefrau Ginevra in der Abtei von Glastonbury. Heinrich II. lässt dabei die vorwiegend mündlich weitergegebenen, bretonisch, walisisch und normannischen Geschichten zusammenfassen. Innerhalb weniger Jahre findet der Stoff auch auf dem Festland entsprechend Anklang. Im gesamten Mittelalter dient die Artus-Sage als Legitimationsquelle der britischen Könige [10, S. 95 ff.]. Diese Phase der Artus Rezeption findet 1485 ihren vorläufigen Höhepunkt in „Le Morte Darthur“ von Sir Thomas Malory. Mit der Renaissance geraten die Sagen um König Artus, auf dem Festland wie in Großbritannien, bis zu den romantischen Bewegungen und dem Historismus des 18. und 19. Jahrhunderts, in Vergessenheit.

In der der Ära der Nationalstaatenbildung suchen Sprachgemeinschaften nach einem Gründungsmythos und einer kulturellen nationalen Identität. Im Rahmen des „Celtic“ oder „Gothic Revivals“, das darauf abzielt, das kulturelle Erbe Großbritanniens wiederzubeleben und romantisch zu verklären, wird die fast vergessene Legende aus dem Mittelalter wiederentdeckt. Die Legende von König Artus wird als nationales Epos angesehen. Folglich werden verschiedene Ereignisse aus dieser Geschichte bewusst ausgewählt, um englische Tugenden zu repräsentieren, wodurch sie einer nationalen Ikonographie der Victorianischen Zeit dienen.

Es kommt zu einer weitreichenden historischen und literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung der Artus-Sage in Großbritannien, dies schlägt sich in Historienromanen und diverser medialer Weiternutzung nieder. Ein Beispiel dafür ist die Widerauflage von „Le Morte Darthur“, das um 1900 herum zu den populärsten Büchern in Großbritannien zählt. Auch die Veröffentlichung von Gedichten von Alfred Tennyson (1809-1892), die sich mit der Artus-Sage auseinandersetzen und geradezu zu moralischen Wegweisern ihrer Generationen werden, tragen dazu bei.

In der Kunst entdecken besonders die Präraffaliten und der englische Jugendstil das Thema um die Artus-Sage für sich. Bekannte Künstler sind unteranderem James Archer, Aubrey Beardsley, Arthur Hughes, Dante Gabriel Rosetti, William Morris, William Holman Hunt und Edward Burne-Jones. Nach dem großen Brand des House of Parliament wird der Ankleideraum der Queen (William Dyce) und die Lords Chamber mit Szenen aus der Artus-Sage ausgemalt (Daniel Maclise) [11, S. 217ff.]. Auch die große Debating Hall der Oxford Union wird von Dante Gabriel Rosetti mit Szenen aus Malorys „Le Morte Darthur“ ausgestaltet.

Parzivals Kampf mit dem Roten Ritter vor den Toren der Burg von König Artus, Sängersaal auf Schloss Neuschwanstein, August Spiess, 1883/84 [12]

Diese Wiederbelebung findet isoliert vom europäischen Festland statt; die konkrete politische Dimension der Rezeption verhindert eine weitere räumliche Ausbreitung. Im sich im Entstehen begriffenen Deutschen Reich kann der auf französisch-sprachigen Quellen beruhende und in England so populäre Stoff der Artus-Sage bei Künstlern erst spät und in geringem Umfang Anklang finden. Dies steht im krassen, vielsagenden und komplett konträren Gegensatz zur Verwendung des Nibelungenlieds [10, S. 135]. Wagners Abstand zu der Figur des König Artus ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar.

Ausgehend von Richard Wagners Musikdramen stellt die Konzeption und Ausgestaltung von Schloss Neuschwanstein einen Kulminationspunkt der Mittelalter-Rezeption im Deutschland des 19. Jahrhundert dar. Der bayerische König Ludwig II weist dabei explizit an, dass die thematischen Stoffe für Wandbilder und ähnliches sich jedoch explizit auf die „historischen“ Sagen beziehen sollen. Er schreibt am 5. April 1879 an den Hofsekretär Bürkel: “Die Bilder in der neuen Burg sollen nach der Sage und nicht nach der Wagnerischen Angabe gemacht werden”. [10, S. 76] Das zeigt einerseits, dass König Ludwig sich bewusst war, dass Wagner die Geschichten zum Zwecke der Verdichtung und Dramatisierung verändert hatte und sich damit von den Originalen entfernt hatte, aber auch, dass selbst mit bewusstem Abstand zur Perspektive der Dramen Richard Wagners König Artus kaum eine Rolle spielt. Nur in Details findet die eigentliche Artus-Sage Rezeption, beispielsweise ist die Kassettendecke im Wohnzimmer König Ludwigs auf Neuschwanstein neben reichem Schnitzwerk auch mit den Wappen der Ritter der Tafelrunde des Königs Artus verziert. Auch ist Artus Burg deutlich zu erkennen auf dem großen Wandgemälde im Sängersaal, wo Parzival mit dem Roten Ritter kämpft. Eine prominente Abbildung, beispielsweise im Thronsaal, erfolgt nicht.

Die Nicht-Rezeption des König Artus zieht sich durch die deutsche Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts [9]. Erst der auch in Deutschland sehr erfolgreichen Roman “Die Nebel von Avalon” von 1983 kann diesen Trend brechen, wobei in diesem Werk die britisch-nationale Bedeutung des Artus-Mythos vollkommen getilgt ist.

Fazit

Wie Ulrich Müller bemerkt, prägt bis in die Gegenwart „Wagner den Rezeptions-Kanon der mittelalterlichen Epen-Stoffe und deren Interpretation im deutschsprachigen Raum wesentlich“ [9] und stellt damit nicht nur Nibelungen-Sage, Parzival und Tristan in den Mittelpunkt der Mittelalter-Rezeption der Romantik, sondern entkoppelt letztere vollkommen von ihrem Kontext der Artus-Sage.

Abschließend kann man über Wagners Gründe der Nicht-Rezeption des König Artus nur spekulieren, jedoch scheint klar, dass Wagner keine gewinnbringende Verwendung eines König Artus in seiner besonderen Interpretation der Sagen fand und auch aufgrund seiner kritischen Distanz, besonders zu Wolfram von Eschenbach, sich nicht dem Original verpflichtet fühlte. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Wagner nicht darauf bedacht war, eine historische oder umfassende Darstellung spezifischer Legenden oder Charaktere zu schaffen. Stattdessen nutzte er diese Mythen und Geschichten als Mittel, um seine eigenen philosophischen und künstlerischen Ideen darzulegen.

Die Erwähnung von König Artus folgte keiner nationalen Funktion oder Notwendigkeit; man darf annehmen, dass ein nicht relevanter Querverweis auf die Nibelungen-Sage deutlich wahrscheinlicher seinen Weg in das Libretto gefunden hätte, wenn dazu aus den Quellen heraus Anlass gewesen wäre. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass Wagners zeitliche Kontext zusätzlich dazu beiträgt, die Identifikationsfigur der Britischen Krone und Nation der damaligen Zeit bewusst außen vor zu lassen.

Richard Wagner hat für das Weiterleben der Mythen des Mittelalters mehr getan als jeder andere Künstler der Neuzeit und auch mehr als die Literaturwissenschaft [13]. Dies jedoch nicht, um Altes wiederzubeleben, sondern um den Problemen seiner Zeit in seinen Dramen einen mythischen Rahmen zu geben, die mittelalterlichen Stoffe werden zum Transportmittel von neuem Gehalt und neuer Bedeutung. Die Mythen und ihre Autoren treten in den Hintergrund: ein König Artus als Symbol englischer nationalen Identifikation würde zu einer geradezu schädlichen Verschiebung der Aufmerksamkeit führen.

Von Benedikt Zimmermann

Quellen

[1] Curt von Westerhagen: „Richard Wagner Dresdener Bibliothek 1842-1849“, Wiesbaden, Brockhaus, 1966

[2] Martin Gregor-Dellin (Hrsg.), Richard Wagner: “Mein Leben“, List Verlag, München, 1994

[3] Briefe in Originalausgaben: Richard Wagner an Mathilde Wesendonck, S. 461. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 18757 (vgl. Wagner-Briefe an M. Wesendonck, S. 248)

[4] Karl Lachmann (Hrsg.): Wolfram von Eschenbach, Berlin, Verlag von G. Reimer, 1891, 5. Auflage

[5] Kurt Pahlen: „Lohengrin“, Schott, Mainz, 1982

[6] commons.wikimedia.org/wiki/File:King_Arthur%27s_Round_Table_at_Winchester_ Castle,_Winchester,_Hampshire,_England.png [02.07.2023]

[7] Kurt Pahlen: „Tristan und Isolde“, Schott, Mainz, 1983

[8] Gottfried von Straßburg: “Tristan und Isolde“, in der Übersetzung von Karl Simrock, Brockhaus, Leipzig, 1855

[9] Ulrich Müller in Gamerschlag, Kurt: “Moderne Artus-Rezeption 18. – 20. Jahrhundert”, S. 143ff, Kümmerle Verlag, Göppingen, 1991

[10] Jürgen Wolf, „Auf der Suche nach König Artus“, Primus Verlag, 2009

[11] Reinhold Baumstark und Michael Koch (Hrsg.), „Der Gral – Artusromantik in der Kunst des 19. Jahrhunderts“, Dumont, Köln, 1995

[12] https://www.neuschwanstein.de/deutsch/schloss/saenger.htm [02.07.2023]

[13] Ulrich Müller, „Richard Wagners ungeschriebene Oper von ‚Erec und Enide‘, Zeitschrift für Germanistik, Band 6, Nummer 2, 1985, S. 180-188